Wichtige Kenndaten von Sehnengarn

Fragen, Themen die das System Bogen incl. Anbauteile betreffen
Wali
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Re: Wichtige Kenndaten von Sehnengarn

Beitrag von Wali »

Wali hat geschrieben: 27. Feb 2019, 19:07 Alle Materialien kriechen unter permanenter Belastung, wenn die 3T-Kriterien erfüllt sind: die Temperatur Ƭ muss hoch genug sein, die lineare Spannung T (tension) muss hoch genug sein und die Zeit t muss lang genug dauern. Man denke an unten verdickte Kirchenfenster (hoch: t, T) oder an das Ziehen von dünnem Draht aus glühendem dicken Rohling im Walzwerk (hoch: T, Ƭ).
Das Kirchenfenster über die Jahrhunderte kriechen und dadurch unten dicker werden ist wohl eine Ente.
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ullr
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Re: Wichtige Kenndaten von Sehnengarn

Beitrag von ullr »

Wali hat geschrieben: 28. Feb 2019, 00:31
Wali hat geschrieben: 27. Feb 2019, 19:07 Alle Materialien kriechen unter permanenter Belastung, wenn die 3T-Kriterien erfüllt sind: die Temperatur Ƭ muss hoch genug sein, die lineare Spannung T (tension) muss hoch genug sein und die Zeit t muss lang genug dauern. Man denke an unten verdickte Kirchenfenster (hoch: t, T) oder an das Ziehen von dünnem Draht aus glühendem dicken Rohling im Walzwerk (hoch: T, Ƭ).
Das Kirchenfenster über die Jahrhunderte kriechen und dadurch unten dicker werden ist wohl eine Ente.
Hallo und guten Morgen Wali, nein, das ist keine Ente. Glas ist eine "feste" Flüssigkeit. Man muß nur lange genug warten.
Gruß
Christian
Nachtrag 28. Feb. 2019 8:38h : Dass Kirchenfenster unten dicker sind und dass das auf dem "Fließen von Glas zurückzuführen ist, ist wohl doch eine Ente...
Man wird alt wie 'ne Kuh und lernt immer noch dazu.
Aber an dem permanenten Kriechen von Glas ändert es nichts. Das stimmt schon. Nur sind die Zeiträume doch noch länger als das Alter von Christentempeln...
Grad noch die Kurve gekriegt... :D
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ullr
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Re: Wichtige Kenndaten von Sehnengarn

Beitrag von ullr »

Ich habe gestern mal rumgesucht, und bin auf diese Doktorarbeit (2017) gestoßen:

Beitrag zur Untersuchung von
hochfesten synthetischen Faserseilen
unter hochdynamischer
Beanspruchung

Ich habe mich Seite für Seite durchgekämpft, um ein Prüfverfahren zum Kriechverhalten zu finden. Die einzigen Hinweise fand ich auf Seite 45/46/113 und auch da nur ganz global als Bewertung. Ich habe kein definiertes Prüfverfahren gefunden. Die Doktorarbeit beruht wohl auf der Forderung, hochpräzise Roboter mit Hilfe von Seilzügen zu bauen. Aber das ist eine Vermutung von mir.
Guten Morgen,
Gruß und klar doch,
"Gut Schuss!"
ullr
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Kriechen von Sehnengarn-Materialien

Beitrag von b_der_k_te »

Dann suche mal nach "Zeitstandsversuch".
Gerade bei Kunststoffe haben sich zwei Begriffe diesbezüglich etabliert.
  • Retardation: da wird das Material unter konstantem Zug belastet (wie z.B. beim Compound der nie abgespannt wird). Das Material kriecht mit der Zeit langsam in die Länge.
  • Relaxation: das Material wird auf eine konstante Länge eingespannt. Diese verändert sich dann nicht mehr, dafür wird die Zugspannung gemessen, die mit der Zeit weniger wird.
Über den Zeitverlauf kann man drei Phasen beim Kriechen unterscheiden.
Primäres, Sekundäres und Tertiäres Kriechen.
Im Sekundären ist die plastische Dehnung linear proportional zur Zeit (d.h. die wenn man die Längung in ein Diagramm über die Zeit einträgt ist das in dem Bereich eine gerade Linie.)
Hierfür gäbe es sogar eine Kennzahl, das Kriechmodul. Dieses ist aber eben abhängig von der Belastungsgröße, der Temperatur und der Zeit und daher nicht als eine einzelne Zahl in Tabellenblättern zu finden.
Oft stolpert man auch über den Begriff "viskoelastisch" da sich die Effekte einer bleibenden (viskos) und einer nicht bleibenden (elastisch) Verformung bei schwankender Belastung überlagern und nicht streng voneinander unterscheidbar sind.

Wie schon geschrieben wurde: Aramid bzw. Vectran haben kein Kriechen!
Deshalb werden diese Mischgarne für Compound angeboten. Das Vectran verhindert das sich der Verbund über die lange (Lager)Zeit nicht ausdehnt. Das Dyneema übernimmt große Anteile der Spannung die beim Abschuß entsteht und hält die elastische Dehnung dabei unterhalb der 3% Bruchdehung bei der das Vectran reißen würde.
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ullr
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Re: Wichtige Kenndaten von Sehnengarn

Beitrag von ullr »

Hallo Bernd, Ja, das ist ja alles klar... Die Fachbegriffe sind mir auch bekannt. Wo nach ich gesucht habe, ist eine klare eindeutige Versuchsbeschreibung, mit der Retardation (Kriechen) allgemeinverbindlich (Zeitdauer, Belastung, Temperatur) getestet wird.
Das Kriechmodul würde sich dafür, drei Werte würden reichen -Temperatur, Prüfspannung und Zeit- m.M.n. dazu eignen.
Gruß und klar doch,
"Gut Schuß!"
Christian
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wapi
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Re: Wichtige Kenndaten von Sehnengarn

Beitrag von wapi »

Wali hat geschrieben: 26. Feb 2019, 22:16
ullr hat geschrieben: 26. Feb 2019, 18:32
Ach ja...
Ich hatte geschrieben
Compoundprobleme (Peepsight) tangieren mich nur periphär...

Weil Kunststoffe unter Belastung immer "kriechen". Deshalb ist das Problem des "Drehens" des Peepsights durch Änderung des Sehnenmaterials nicht endgültig lösbar. Und unlösbaren Problemen sollte man aus dem Weg gehen... :D

Das Kunststoffe immer kriechen, wurde mir auch mal so beigebracht. Wird sich wohl auch nicht ändern.

Jedoch hat sich seit dem schon einiges getan. Takelage an Segelbooten baut man mittlerweile nicht mehr aus Stahlseil, weil die Garne bezüglich kriechen und Zugfestigkeit mit Stahl gut mithalten können.

Drehende Peepsights sind auch kein Thema mehr, wenn man bei einem guten Sehnenbauer gekauft hat und keinen Blödsinn beim Montieren der Sehne macht. Die Sehne ist so fett ausgelegt, das sie nicht messbar kriecht. Vor Jahren waren Compoundsehnen mit Vectrananteil wohl die erste Wahl um dem Creep vorzubeugen. Ich denke das kommt aber langsam aus der Mode. Das pure Dyneemazeug wird immer hochwertiger.

Es wird die Recurver zwar nicht jucken, geschweige denn sie bemerken es auch nicht, aber steckt mal eine Nadel in die Sehne und spannt dann mal den Bogen. Fängt die Nadel beim Auszug an zu rotieren, habt ihr eine schlecht gebaute Sehne.
Für Compound ist das Ausschuß, gibt nichts ätzenderes wie ein drehendes Peep oder so ein Gummiband am Peep um den Laden gerade zu ziehen.
Wali,
ich denke Du hast es bezüglich der Bogen-Sehnen-Materialien auf den Punkt gebracht und die, die sich näher mit dem Thema beschäftigen wollen, haben in der SEhnengarn-Übersicht eine gute Orientierungshilfe. Bernd hat es ebenfalls so herausgestellt.

Was die Vectran Beimischung generell angeht habe ich in den letzten Jahren wiederholt Rückmeldungen zu Vergleichen zwischen 100% DSM Dyneema HMPE und Hybridgarnen erhalten, bei denen es keine nennenswerte Unterschiede bei den Leistungsdaten gab, lediglich ein angenehmeres und ruhigeres Abschußgeräusch zugunsten des 100% HMPE Garnes festgestellt wurde.

Man darf gespannt sein, wie sich das BCY X99 bewährt. Garntechnisch ist das nicht unproblematisch, weil der Garnstrang SK 99 mit einer Filamentzahl von 880 und einem Gewicht von 880dtex mit Vectran mit 20 Filamenten und einem Gewicht von 220dtex eine "Zwangsehe" eingehen muß.

Jeder Bogenschütze kann zwischen den verschiedenen Sehnengarnen frei wählen. Andererseits zeigt aber die Übersicht auch, welche Produktdoppelungen es auf der Anbieterseite BCY / Brownell gibt. Einzig Angel und Lippmann fahren hier ein anderes - für den Bogenschützen faireres - Produktkonzept, welches jeweils eine Garntype (bei Angel sind es zwei) vorsieht.


Nach meiner Ansicht gibt es bei der Verwendung von Bogensehnengarnen, abgesehen vom Polymer, hinsichtlich der Garnbeschaffenheit (Garngewicht und Filamentzahl) Grenzen. Diese Grenze hat man mit der SK90 erreicht, mit der SK99 aber überschritten.

Gruß
b_der_k_te
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Re: Wichtige Kenndaten von Sehnengarn

Beitrag von b_der_k_te »

wapi hat geschrieben: 1. Mär 2019, 10:48 Man darf gespannt sein, wie sich das BCY X99 bewährt. Garntechnisch ist das nicht unproblematisch, weil der Garnstrang SK 99 mit einer Filamentzahl von 880 und einem Gewicht von 880dtex mit Vectran mit 20 Filamenten und einem Gewicht von 220dtex eine "Zwangsehe" eingehen muß.
Das Vecran hat 40 Filamente laut Liste, aber ja der Durchmesserunterschied der Filamente zwischen SK99 und Vectran ist gewaltig. Das habe ich so noch gar nicht betrachtet.

Das finde ich auch so gut an Deiner Liste das man gleich sieht welche Produktnamen von BCY und Brownell eigentlich ein und dasselbe sind.
Ich persönliche tendiere dann eher zu BCY weil man dort ein Quäntchen mehr an Information angeboten bekommt.
wapi hat geschrieben: 1. Mär 2019, 10:48 Nach meiner Ansicht gibt es bei der Verwendung von Bogensehnengarnen, abgesehen vom Polymer, hinsichtlich der Garnbeschaffenheit (Garngewicht und Filamentzahl) Grenzen. Diese Grenze hat man mit der SK90 erreicht, mit der SK99 aber überschritten.
Wie genau meinst Du das?
Das Garngewicht - also den Titer - ist bei SK99 deutlich geringer. Das heißt aber nur das man als Sehnenbauer mehr Stränge davon zu einer Sehne wickelt. Hat das denn Nachteile? Vielleicht weil man dann mehr Stränge auf gleichmäßigen Zug beim Aufbau kontrollieren muß?
Grundsätzlich sind feinere Filamente doch besser weil dadurch kleine Fehler im Produktionsprozess sich prozentuell geringer auswirken. Diesbezüglich ist SK90 doch noch radikaler als SK99. (1176 Filamente für einen 1040dtex Titer macht 0,9 dtex pro Filament) Das Filamentgewicht bei SK90 ist noch geringer als bei allen anderen Dyneema-Typen. Hat SK90 da aus Deiner Sicht eine Grenze überschritten?

Für die Angel-Garne kennt man leider weder Titer geschweige denn die Filamentanzahl, oder?
Doch wieviele Filamente hat denn Lippmann in seinem Sehnengarn verarbeitet? Das wäre in dem Vergleich doch auch mal interessant.

Weil Du es in einem früheren Beitrag angesprochen hast: Was schlägt denn dann Sid von Border Bows für Garne vor?
Tendiert er dann eher zu FastFlight (SK65) ? Nach den Daten der vorliegenden Liste wäre LBS dann auch ein Garn welches Sid bevorzugen könnte.
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ullr
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Re: Wichtige Kenndaten von Sehnengarn

Beitrag von ullr »

Ich erlaube mir mal folgenden Hinweis:
Mir ist bis jetzt kein einziger realer Beschußtest untergekommen, der tatsächlich einen objektiven Vergleich zwischen verschiedenen Garnen zeigt. Von der Garnmasse Dacron/UHMW Polyethylen mal abgesehen.
Eine Ausnahme befindet sich auf meiner Hompage: Sehnengarn, ein Artikel der ein Jahr alt ist.
Das Ergebnis dieses Testes war: Kein Unterschied.
Ich bleibe dabei: Es gibt hinsichtlich des Sehnengarnes keinen wesentlichen Unterschied (für den Recurve), wenn man alle Parameter gleich hält. Und dazu gehört selbstverständlich die Masse der Sehne. Und wenn die Masse der Sehne über die Garndicke manipuliert wird, muß das durch mehr oder weniger Stränge in der Sehne ausgeglichen werden, um die wichtigen Materialeigenschaften des Produktes zu untersuchen.
Ich bin an weiteren auswertbaren Ergebnissen wirklich interessiert, aber ich bin überzeugt, dass es in den letzten zwei-drei Jahren keine technischen "Revolutionen" gegeben hat.
ullr
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Re: Wichtige Kenndaten von Sehnengarn

Beitrag von ullr »

wapi hat geschrieben: 1. Mär 2019, 10:48 ...
Nach meiner Ansicht gibt es bei der Verwendung von Bogensehnengarnen, abgesehen vom Polymer, hinsichtlich der Garnbeschaffenheit (Garngewicht und Filamentzahl) Grenzen. Diese Grenze hat man mit der SK90 erreicht, mit der SK99 aber überschritten.

Gruß
@wapi:
Könntest Du diese Ansicht der "vermeintlichen Grenze bzw Grenzüberschreitung" näher erläutern? Wie wirkt sich diese Grenzüberschreitung bei Bogensehnen für
a) Recurve
b) Compound
aus?
Bewirkt diese "Grenzüberschreitung" Verschlechterungen hinsichtliche der Auswirkungen auf die Zuverlässigkeit des Bogensystems (z.B. creep der Probleme mit dem Diopter (Peepsight) beim Compound hervorruft) oder haben sie Einfluß auf das innenballistische bzw außenballistische Verhalten des Pfeil-Bogensystems?
Wie wäre es, wenn Du diese Fragen klar und eindeutig beantworten könntest? Du nennst Dich doch selber Bogensportberater, also dürfte das ja keine großen Schwierigkeiten bereiten.
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mbf
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Re: Wichtige Kenndaten von Sehnengarn

Beitrag von mbf »

Nachdem wir viel über die Eigenschaften vorhendener Garne diskutiert haben, nähern wir uns jetzt einem interesanten Aspekt: was braucht denn der Bogenschütze? Welche Anforderungen ergeben sich an Sehnengarn aus der Sicht des Bogenschützen - und welche davon werden von vorhandenem Material erfüllt? Wo gibt es eventuell noch Entwicklungsbedarf?

Ein paar Aspekte, dir mir gerade einfallen:
  • Dickes oder dünnes Garn - sprich: mehr oder weniger Stränge pro Sehne?
  • Kein Creep - insbesondere für Compound. Offensichtlich und gelöst.
  • Als Sehne abriebfest - kein "Fusseln".
  • Wachsauftrag - wie viel?
  • Zusammensetzung der Stränge - mehr oder weniger Filamente?
  • Elastisches Verhalten - wie viel und in welcher Charakteristik? Möglichst wenig oder gibt es ein Optimum? Gerade hierum dreht sich die aktuelle Diskussion.
Grüße, Matthias

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